Irmgard & Ortrud:
Mädchen gegen Generäle!
NEIN zu falschen Helden!

Ehre, wem Ehre gebührt!?
Straßennamen und ihre geschichtliche Bedeutung

Im Zusammenhang mit den aktuellen Diskussionen um richtige oder falsche Straßennamen stellen sich viele Fragen: Ehren oder nicht ehren? Weiter erinnern, vom Straßenschild entfernen oder mit Erläuterungen versehen? Zu welchen Zeiten sind die diskutierten Straßen mit welchen Namen bezeichnet worden? Und wenn es eine Namensänderung geben soll: Welche Ersatznamen kommen dafür in Frage? Die historisch überlieferten Bezeichnungen oder gänzlich Neue, die man möglicherweise in einem bürgerbeteiligenden Verfahren ermittelt?

In der Hitze des Debattengefechts in Zeitungen, Internetforen und politischen Vertretungen droht in Vergessenheit zu geraten, welche Funktion Straßennamen in unserem tagtäglichen Zusammenleben haben. Strittig sind ja nicht Rüttenscheider Bezeichnungen wie „Süthers Garten“, „Emmastraße“ oder „Waldblick“, sondern hauptsächlich Straßennamen, die nach historischen Personen benannt wurden.

Warum Straßennamen?

Klar, Straßen brauchen eindeutige Bezeichnungen, sonst findet unser Brief nicht seinen Empfänger. Um sie klar identifizierbar zu machen, kann man Adressen etwa mit alphanummerischen Kennzeichen versehen, wie es etwa in New York, und anderswo in den Vereinigten Staaten, gang und gäbe ist: Mit der Fifth Avenue oder der 88th Street verbindet man dort bekannte Ziele.

Doch in Deutschland hat sich wie in vielen anderen Ländern im Verlauf der jahrhundertelangen Entwicklung eine andere Bezeichnungstradition herausgebildet. Straßennamen haben bei uns nicht nur eine Lokalisierungsfunktion, sondern auch einen Erinnerungsauftrag: Es ist uns nicht egal, mit welchem Namen eine Straße bezeichnet wird: alte Flur- und Ortsbezeichnungen, historische Plätze wie Märkte oder Stadttore sind „gewachsene Namen“, die sich im Volksmund langsam eingebürgert haben.

Historisch gewachsene Straßenbezeichnungen wurden im Laufe der Zeit ergänzt durch erdachte Benennungen, die zudem noch Erweiterungspotenzial aufweisen sollten. So wurden etwa in Rüttenscheid die sogenannten „Mädchen- und Jungenviertel“ eingerichtet: Östlich der Rüttenscheider Straße (die damals noch Essener Straße hieß) erhielten die Straßen Mädchennamen, westlich davon wurden Jungennamen verwendet.

Während sich im Essener Norden und Westen die Stadtteile insbesondere durch Zuzug von Industriearbeitern und ihrer Familien vergrößerten, wuchs der südliche Teil Essens eher durch Eingemeindungen, indem dort verschiedene bis dahin eigenständige Gemeinden der Stadt Essen zugeschlagen wurden. So kam im Jahr 1905 Rüttenscheid zu Essen, verschiedene dort existente Straßennamen mussten zur Vermeidung von zukünftig doppelt in der Stadt vorhandenen Straßenbezeichnungen umbenannt werden.

Wie kam es zu den Umbenennungen „Von-Seeckt-Straße / Von-Einem-Straße“?

So erging es auch den beiden Rüttenscheider Straßennamen Henriettenstraße und Ottilienstraße. Weil es in der Essener Innenstadt schon Straßen gleichen Namens gab, wurden die beiden Rüttenscheider Straßen Anfang 1906 gemäß praktizierter Namenstradition in Irmgardstraße und Ortrudstraße umbenannt. Diese behielten sie etwa 30 Jahre lang – bis zu einer politisch motivierten Umbenennung im Jahr 1937.

Gemäß Verfügung des nationalsozialistischen Oberbürgermeisters Justus Dillgardt wurden die beiden Straßen am 20. November 1937 nach den kurz vorher verstorbenen Reichswehrgenerälen Hans von Seeckt und Karl von Einem umbenannt (Verfügung St.A. 61-S.B. 487). Der damalige Oberbürgermeister spricht in seiner Verfügung von „begründeten Ehrungen verdienter Persönlichkeiten“, fügte in den amtlichen Unterlagen jedoch keine sachlichen Begründungen für die Auswahl dieser Personen an. Ungewöhnlich ist auch, dass die Stadtverwaltung allein die Umbenennung vornahm und dafür auch die betroffenen Straßen auswählte – ein Repräsentativorgan wie der Stadtrat befasste sich nicht mit dieser Thematik.

Aber warum genau diese beiden Straßen? Da die amtlichen Unterlagen darauf keine Antwort geben, können dazu trotz einiger Indizien nur Vermutungen angestellt werden. So geben die damaligen Adresslisten der beiden betroffenen Straßen Aufschluss darüber, dass dort auffällig viele Personen in einflussreichen amtlichen Positionen wohnten: Allein zehn Stadt(ober)inspektoren und zwei städtische Dezernenten, einer zuständig für alle Angelegenheiten des Grundstücksamts, zeugen von hoher städtischer Machtansammlung in beiden Straßen. Dies lässt vermuten, dass die dort wohnenden städtischen Entscheidungsträger ihren Einfluss eingesetzt haben, um ihre beiden Straßen nach den damals renommierten Generälen zu benennen.

Verpasste Entmilitarisierung der Straßennamen in Essen

Die nationalsozialistische Herrschaft kollabierte erst mit der bedingungslosen Kapitulation am Ende des Zweiten Weltkriegs. Um Deutschland einen Weg zurück zu einer autoritären und militaristischen Staatsform zu verwehren, beschlossen die Siegermächte eine weitreichende Umerziehung der deutschen Bevölkerung, u.a. mit Hilfe der Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Straßennamen. Gemäß Anweisung 30 des Alliierten Kontrollrates vom 13.05.1946 hatten die Städte und Gemeinden in Deutschland alle Straßennamen zu ändern, „die geeignet sind, die deutsche militärische Tradition zu bewahren und lebendig zu erhalten, den Militarismus wieder zu erwecken, an die Nazi-Partei zu erinnern oder kriegerische Ereignisse zu verherrlichen“.

Dies war auch in Essen notwendig. Denn wie in fast jeder deutschen Stadt hat der Nationalsozialismus in den Straßennamen tiefe Spuren hinterlassen: Von der obligatorischen Adolf-Hitler-Straße (ehemals Kettwiger Straße) mit entsprechendem Platz (Burgplatz) über die entsprechende Benennung nach Hermann Göring (Rüttenscheider Straße) bis hin zu den sogenannten „Blutzeugen der Bewegung“ wie Horst Wessel (Klarastraße und Rüttenscheider Platz) oder dem Essener „Blutzeugen“ Gottfried Thomae, der als erster hiesiger Nationalsozialist am 28. April 1928 bei einer Schlägerei ums Leben kam. Auf ihn wurden der Limbecker Platz, die Altendorfer Straße bis zur Helenenstraße sowie das Glückaufhaus umbenannt. Ihnen folgten noch mehr als fünfzig weitere Personen, die durch die nationalsozialistischen Machthaber aus politischen Gründen als Straßenpaten geehrt wurden. Darunter auch die Generalobersten Hans von Seeckt und Karl von Einem, wofür die Irmgardstraße und die Ortrudstraße in Anspruch genommen wurden. Diese seien nach Meinung des Essener Straßennamenhistorikers Erwin Dickhoff „als eindeutig militaristisch [...] zu klassifizieren“ (Erwin Dickhoff: Die Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Straßennamen, In: Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 1986/87 (H.101), 77-104, S. 83).

Als der Krieg endete, ging auch der neue Essener Oberbürgermeister Hugo Rosendahl daran, die Straßennamen gemäß Alliierter Anweisung zu entnazifizieren. Von Juni 1945 bis Mai 1946 wurden 47 Straßen mit nationalsozialistischem Namensbezug wieder zurück- oder umbenannt (vgl. ebd., S. 85 f.). Während man so bei der Entnazifizierung recht umfänglich vorging, missachtete man in Essen die Alliierte Anweisung zur Entmilitarisierung der Straßennamen: „Der Bauausschuss lehnte in seiner Sitzung am 27. August 1947 die vorgesehenen Umbenennungen [von fünf Straßen mit Namen von Militärs, darunter Hindenburgstraße, Von-Seeckt-Straße und Von-Einem-Straße] kategorisch ab. Eine Begründung wurde nicht gegeben.“ (ebd., S. 87)

Auch nachdem mehrfach der Regierungspräsident, der Innenminister von Nordrhein-Westfalen und sogar die britische Militärregierung bei der Stadt Essen auf Umsetzung der Entmilitarisierungsvorgaben insistierten, wurden die entsprechenden Essener Straßen nicht umbenannt, u.a. mit Hilfe einer völlig unrealistischen Kostenrechnung, die den finanziellen Aufwand der Stadt als unzumutbar erscheinen lassen sollte. Mit dem Beginn des Kalten Krieges und der westlichen Blockintegration der gegründeten Bundesrepublik gingen die neuen politischen Verhältnisse über die alliierten Umbenennungsanweisungen hinweg – der Vorgang wurde in der Essener Stadtverwaltung zu den Akten genommen, sodass die Entmilitarisierung der Straßennamen unterblieb (vgl. ebd., S. 90).

Rückbenennungsversuche

Erst seit den 1980er-Jahre gab es wieder vermehrte Versuche, die beiden Rüttenscheider Straßen rückzubenennen bzw. ihre Namensgeber zu hinterfragen: durch Schüler in Geschichtskursen der angrenzenden Schulen, durch Politiker des Bezirks oder durch Anwohner der beiden Straßen. Doch trotz unterschiedlichster Initiativen verschiedenster Menschen in den letzten Jahrzehnten blieben die Straßen weiter nach den beiden Generälen benannt. Immerhin beschlossen die Fraktionen und Mitglieder der Bezirksvertretung II im Jahr 2007, zur Erinnerung an das problematische Wirken der beiden Generäle an der Kreuzung beider Straßen einen Mahnstein aufzustellen. Die Mahntafel mit entsprechenden historischen Kommentaren des Leiters des Essener Stadtarchivs, Dr. Klaus Wisotzky, wurde am 14. März 2008 eingeweiht.

Erst mit dem Rückbenennungsbeschluss der Bezirksvertretung II vom 24. Mai 2012 gab es zum ersten Mal eine demokratisch legitimierte Mehrheitsmeinung, den Straßen ihre ursprünglichen Mädchennamen zurückzugeben. Inwieweit dieser Beschluss von den Bürgern geteilt wird, stellt sich in dem bezirksweiten Bürgerentscheid am 3. Februar 2013 heraus. Inwieweit dieser Entscheid dann auch zukünftige Gültigkeit beanspruchen kann, hängt insbesondere vom Befriedungspotential der zukünftigen Straßennamen ab. In Anbetracht der aufgezeigten historischen Entwicklung ist es zweifelhaft, dass dies die Namen der beiden Reichswehrgeneräle vermögen werden.